Der Kirchenbau an der Wolga Im ältesten, größten und geschlossensten Siedlungsgebiet der Deutschen in Rußland, im Saratower Gouvernement, das 1763—1770 aufgrund des durch die Kaiserin Katharina erlassenen Manifestes besiedelt wurde, werden die Kirchen zumindest in den ersten Jahrzehnten der Ansiedlung recht einheitlich gebaut: man baute klassizistisch.
Schon Peter der Große proklamierte den Grundsatz der Religionsfreiheit in seinem Manifest von 1702. Auf ähnliche Weise gewährte auch Kaiserin Anna 1735 „den Lutheranern, Reformierten und Römisch-Katho-liken das freie exercitium religionis" (Bonwetsch). Graf Orlow, der sich mit Erfolg für die Besoldung der ersten Geistlichen aller drei Konfessionen verwendet hatte, erwirkte bereits 1765 von der Zarin den Befehl, auf Staatskosten Kirchen, Glockentürme und Pfarrhäuser mit dem notwendigen Inventar zu errichten und die Auslagen als Vorschuß an die Kolonien zu verrechnen. All dem ging das Zugeständnis der freien Religionsausübung für alle Zeiten voraus, das mit zu den gewährten Privilegien gezählt werden muß, die Kaiserin Katharina in ihrem Manifest aussprach: „Alle in Unser Kaiserreich zur Ansiedlung Angekommenen haben unbehindert freie Ausübung der Religion nach ihren Satzungen und Gebräuchen, und welche nicht in Städten, sondern in besonderen Kolonien und Flecken auf leeren Ländereien sich anzusiedeln wünschen, können Kirchen und Glockenthürme bauen, die dazu erforderliche Anzahl Pastoren und andere Kirchenbedienstete halten, mit alleiniger Ausnahme der Erbauung von Klöstern." Dadurch wurde es möglich, die Kirchen der deutschen Siedler angepaßt an die sakralen Erfordernisse der jeweiligen Glaubensbekenntnisse zu errichten. Diese Aufgabe erfüllten die Siedler mit bewundernswerter Energie und Ausdauer; denn leicht war es ihnen nicht gefallen, die anfänglichen materiellen Notstände zu überwinden, sich in die ganz neuen und andersartigen Verhältnisse einzuleben und gegen die immer wieder in die Siedlungen einbrechenden asiatischen Volksstämme anzukämpfen. Den Siedlern* in diesen Zeiten ging es vor allem darum, daß sie eine Kirche hatten. —
In welchem Stil sie gebaut werden sollte überließ man den Behörden und dem Baumeister. Dies wird wohl neben der Tatsache, daß Deutsche, Franzosen, Schweizer und Schweden in Siedlungen wahllos durcheinandergemischt wurden, mit ein Grund gewesen sein, daß sich in der neuen Heimat ein klarer, eigenständiger Baustil vorerst nicht herausbilden konnte. Und wenn diese ersten Kirchen auch klein und bescheiden aussahen, so erfüllten sie neben ihrer sakralen Aufgabe doch noch eine andere: die des Mittelpunktes allen Gemeinschaftslebens. Nach rund einem halben Jahrhundert standen über hundert Siedlungen, von denen „jede, auch die kleinste Colonie ihre eigene Kirche und Schule besitzt, fast überall in der Mitte des Dorfes. Bei jeder Kirche befindet sich wenigstens eine Kirchenglocke, größere Colonien haben deren zwei, einige auch drei, welche beim Läuten gezogen werden. Seit einigen Jahren fängt man in den Colonien an, steinerne Kirchen zu bauen, die meisten sind jetzt noch von Holz, so auch Schulhäuser" (Possart). Die leichte Ausführung dieser Kirchen und das Fehlen einer Heizung führte dazu, daß zu Winterszeiten in zahlreichen Fällen die Gottesdienste in den Schulstuben gehalten werden mußten. Nach Bonwetsch ist es auf die russischen Baumeister der ersten Kirchen zurückzuführen, daß der Typus der evangelischen Kirche in den Wolgakolonien mit dem der griechisch-orthodoxen Kirchen übereinstimmt. Nur in der inneren Einrichtung der Kirchen und in der Gottesdienstordnung hätten die Gemeinden frei entscheiden dürfen.
Im Aufsatz „Die Architektur in den Wolgadeutschen Dörfern" von Dr. Carl Cramer lesen wir u. a.: „In den ältesten, uns durch Professor G. Pisarewski zugänglich gemachten Dokumenten (vgl. Pisarewski, Aus der Geschichte der Immigration nach Rußland im a8. Jahrhundert, Moskau 1909, russisch, Beilage Nr. 34, Seite 68 f.) finden wir die Nachricht über die Saratower Siedler (aus dem Reichsarchiv vom 2. Mai 1771), dass 12 Kirchen, 12 Schulen und 12 Pastorate gebaut worden und noch drei Kirchen, drei Pastorate und drei Schulen zu erbauen seien, entsprechend der Einteilung sämtlicher Kolonien in 15 Kirchspiele. Wir entnehmen dieser beiläufigen Bemerkung, daß die Krone für den Bau öffentlicher Gebäude genau so verantwortlich gemacht werden muß wie für die Anlage der Dörfer und den Bau der Wohnhäuser. Die Regierung hat also die Pläne für die Kirchenbauten usw. gemacht. Von welchen Gesichtspunkten hat sie sich dabei leiten lassen?"
Cramer untersucht nun die Entwicklungswege der russischen Baukunst ausgehend von der altgermanischen Wurzel einerseits und dem andersgearteten aus By-zanz kommenden Einfluß. Zu den fremdländischen Stileinflüssen gehört aber auch der Klassizismus, der, vorwiegend aus Frankreich über Deutschland nach Rußland kommend, sich hier nachhaltig auswirkt. „Der russische Kunsthistoriker Grabai gibt uns als Beispiel des europäisierten russischen Baustils vom Ende des 18. Jahrhunderts den Glockenturm der Kathedrale von Rjasan (auf dem halben Wege etwa von Moskau nach Saratow). Das Bild dieses Glockenturms bringt die Zeitschrift ,Atlantis' im Aprilheft des Jahres 1933. Für unsere Frage hat gerade dieser Glok-kenturm seine besondere Bedeutung." Durch den klassizistischen Stil werden nicht nur Neubauten bestimmt, sondern auch schon bestehende Bauten werden nachträglich nach diesem Baugedanken verjüngt.
„Es braucht uns also nicht zu wundern, wenn bei den öffentlichen Bauten in den Wolgakolonien dieser Stil befohlen wurde. So mußten nun die evangelischen, so auch die katholischen Kirchen gebaut werden. Das Kirchenschiff schließt sich unmittelbar an den Turm an und weist an den beiden Längsseiten über den Ausgängen gleichfalls die überdachten klassizistischen Säulengänge auf.
Merkwürdig ist nun, daß dieser Baustil, der sich vorzüglich für Holzbauten eignet, aber auch in Steinausführung keine Schwierigkeiten bereitet, sich so lange gehalten hat. Längst sind die zuerst gebauten Kirchen zerfallen, abgetragen, durch neue ersetzt. Die meisten Kirchen, die bei Ausbruch des Krieges bestanden, sind in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erbaut worden. Alle tragen sie noch die Merkmale des alten befohlenen, oder wie man in den Kolonien sagte, des „Kontor"stils an sich. Das ist uns ein Beweis, daß die Behörde, die über die Wolgakolonisten gesetzt war, eben das „Kontor" zu Saratow, sich starr an die einmal gegebenen Richtlinien gehalten hat und nicht duldete, daß die Kolonisten aus eigenem Empfinden und Willen sich Feierstätten schufen. Zufällig ist uns das Bild einer recht alten Kirche aus Holz erhalten geblieben: es ist die Kirche zu Messer." (Abb. 19). „Diese Kirche weist am Turm noch die Andeutung des Säulenganges auf — es sind an der Vorderseite je zwei Balken vorgelagert, die auch im zweiten Stockwerk des Turmes über dem kleinen Dachvorsprung ihre Fortsetzung finden. Der oberste Stock des Turmes hat schon keine Verzierungen mehr, aber er geht selbst in eine achteckige Form über und wird durch eine Zwiebelkuppel gekrönt, die ein protestantisches Kreuz abschließt. Hier könnte man vielleicht wieder auf russischen Ursprung schließen, wenn wir nicht in Mitteldeutschland Kuppeln ähnlich wie diese in großer Zahl anträfen, und hier wird man wohl kaum von russischem Einfluß sprechen können. Die Kirchen, die im 20. Jahrhundert erbaut sind, weisen starke Einflüsse der im Reich üblichen Bausteinkastengotik auf. An zwei Bauten merken wir jedoch, wie der Wolgakolonist sich mit der strengen und schlichten Form dieser Vorlagen nicht zufrieden gibt, sondern bestrebt ist, durch Türmchen und Verzierungen anzuzeigen, daß er gewillt ist, an den schönsten Bau seines Dorfes auch einige Mittel zu wenden. Es sind dies die Kirchen zu Dünkel und Messer, beide „gotisch" gedacht, aber nicht rein durchgeführt. Als Kunstwerke dürfen sie nicht angesprochen werden."
Der Baustil der russisch-orthodoxen Kirche blieb seit dem 11. Jahrhundert, wie schon oben erwähnt, vorwiegend der russisch-byzantinische Stil. Doch verschlossen sich die russischen Baumeister des 18. und 19- Jahrhunderts keineswegs neuen Stileinflüssen aus dem Abendlande. Angeregt und gefördert wurde diese Entwicklung durch die Verpflichtung bekannter Baumeister aus Italien, Frankreich und Deutschland, die im damaligen Rußland profane und sakrale Prunkbauten errichteten.
Die Neigung, ausländische Architekten zu verpflichten, entsprang einem gewissen Geltungsbedürfnis der dam,aligen herrschenden Kreise. Schon Tezzini und Le-blond hatten eine Anzahl fähiger russischer Schüler, deren begabtester, M. Semzow, um 1830—40 die Simon-Anna-Kirche, nach dem Vorbilde der Peter-Pauls-Kirche erbaute. Sie nahmen jedoch dem Turm einen Teil seiner Wirkung, aber dadurch gelangt die Kuppel mehr zur Geltung; sie greift in der Simeon-Anna-Kirche wesentlich in die Gestaltung des Innenraumes ein.
SawaTschewakinski, 1713—1783, einer der fähigsten Schüler Pastrellis, erbaute in den Jahren zwischen 1750 und 1760 in überschwänglichem Spätbarock die 5-kup-pelige Nikolai Morskoi-Kirche zu Petersburg. Aus dieser Schule taten sich auch die Baumeister Baschma-kow und Uchtomski hervor. Diese barocke Bautendenz mündete in den im Rußland des 18. und 19. Jahrhunderts stark an Bedeutung und Ausbreitung gewinnenden Klassizismus. Was hier von russischen Baumeistern geschaffen wurde, ist kein bloßes Kopieren hergebrachter klassizistischer Bauformen, sondern vielmehr ein persönliches Nachempfinden dieser Ideen in wohl einfacher, klarer Form, doch immerhin in vollkommen eigenwilliger Art. Ein treffendes Beispiel hierfür ist die von Wassili Baschenow (1737—1799) in Moskau gegründete Bauschule, die ein klassizistisch orientiertes, vereinfachtes Barock pflegte und die bestimmend für die Zeitgenossen und Nachfolger wurde. Zu den großen Architekten des russischen Klassizismus gehört auch Matwei Kasakow, 1733—1812, der in Moskau die Auferstehungskirche als schlichte vertikale Kuppel-Rotunde mit unterem Säulenumgang, die Kirche des Metropoliten Philipp und das ehemalige Palais Rasumowski gestaltete. Prächtige Beispiele für den Einfluß dieser Formen sind die Kirchen in Schönchen (HBR 1956, S. 134), Alt-Hussenbach (HBR 1957, S. 102) und Katharinenstadt an der Wolga. Kathari-nenstadt hatte 3 Kirchen: eine evangelische, eine katholische und eine orthodoxe.